Chronische Schmerzen & Stress: Warum dein Lebensstil so wichtig ist
Chronischer Schmerz gilt als häufigste Erkrankung weltweit, durch welche sowohl Behinderung als auch sozioökonomische Schäden entstehen.
Die WHO definiert chronischen Schmerz als Erkrankung, die durch funktionelle und strukturelle Veränderungen des Gehirns, Neuroinflammation und zentrale Sensibilisierung (d. h. erhöhte Sensibilität des zentralen Nervensystems gegenüber sensorischem Input) gekennzeichnet ist.
Dabei gilt:
- Verhaltens- und Lebensstilfaktoren wie Stress, Schlaf, Ernährung oder körperliche Aktivität werden als wichtige Faktoren bezüglich der Schmerzausprägunganerkannt.
- Chronischer Schmerz ist mit einer reduzierten Lebenserwartung assoziiert. Diese ist unter anderem durch ein vermehrtes Aufkommen von Krebs, Herzkreislauferkrankungen und den Missbrauch von Opioiden bei Menschen mit chronischen Schmerzen bedingt.
- In Behandlung und Management von chronischen Schmerzen sollten Verhaltens- und Lebensstilfaktoren daher eine größere Beachtung gegeben werden.
In der aktuellen Versorgungspraxis werden diese Faktoren jedoch meist nicht beachtet oder durch standardisierte Interventionen und Programme adressiert, während multimodale und individualisierte Ansätze kaum implementiert sind.
Das Ziel der Arbeit von Nijs et al. ist es, Gesundheitsfachberufe dafür zu sensibilisieren, in ihren Behandlungs- und Managementstrategien vor allem bei chronischen Schmerzpatient*innen multimodale und individualisierte Ansätze stärker zu berücksichtigen.
Dazu gehört ggf. auch die Thematisierung von Lebensstilfaktoren.
Identifikation relevanter Lebensstilfaktoren
Um eine individuelle Therapiegestaltung bei Personen mit chronischen Schmerzen zu ermöglichen, ist die Identifikation relevanter Lebensstilfaktoren ein zentrales Ziel der Anamnese.
Hierfür können einfache Fragen wie „Fühlen Sie sich nach dem Aufwachen erholt?“, „Wie sehen Ihre Mahlzeiten typischerweise aus?“ oder „Fühlen Sie sich derzeit gestresst?“ genutzt werden.
Die Autor*innen Nijs et al. empfehlen dafür in der Therapie eine Kombination aus motivationaler Gesprächsführung und neurophysiologischer Schmerzedukation als zwei wichtige, sich ergänzende und vorbereitende Maßnahmen für eine Verhaltensänderung. Beide Elemente dienen dem Abbau von individuellen Barrieren einer späteren Verhaltensveränderung.
Im Zuge des shareddecisionmaking –Prozesses sollten dabei Lebensstilfaktoren identifiziert und priorisiert werden, die aus Sicht der Patient*innen relevant sind– ein Adressieren aller Faktoren könnte stattdessen zu einem Gefühl von Über-forderung und im Weiteren zum Therapieabbruch führen.
Chronischer Schmerz und physische Aktivität
Physische Aktivität und chronischer Schmerz stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander.
Dabei gelten Aktivitätsinterventionen in der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen als kostengünstig und sicher.
Menschen mit chronischen Schmerzen zeigen häufig ungünstige Überzeugungen (z. B.: „Bücken mit rundem Rücken schadet meiner Wirbelsäule“) oder ungünstige Verhaltensweisen (z. B.: Überbelastung durch Arbeitsfaktoren oder Bewegungsmangel) in Bezug auf physische Aktivität.
Eine individuelle Therapiegestaltung ist aufgrund dieser verschiedenen Ausprägungen wichtig.
Der Einbezug zusätzlicher Kontextfaktoren in die Therapieplanung und -gestaltung kann die Therapieadhärenz (Therapietreue) und somit den Erfolg von physischen Aktivitätsinterventionen steigern. Das Vorgehen kann schemenhaft wie folgt erklärt werden:
Chronischer Schmerz und Schlaf
Schlafstörungen wie Insomnie* sind häufig bei chronischen Schmerzpatient*innen und können die Schmerzbewältigung erheblich beeinträchtigen.
Hierbei ist beispielsweise durch neuroinflammatorische Mechanismen von Wechselwirkungen zwischen chronischem Schmerz und Schlafmangel bzw. Schlafstörungen auszugehen.
Insomnie …
… korreliert mit der Schmerzintensität.
… stellt eine Barriere für ein effektives Schmerzmanagement dar.
… schränkt das physische Aktivitätsniveau ein und steht in Verbindung mit limitierten Alltagsfunktionen.
Die Autor*innen Nijs et al. stellen in diesem Zusammenhang den Stepped Care Ansatz vor. Dieser dient der Behandlung von Insomnie und bietet, wie in der Abbildung gezeigt wird, die Möglichkeit einer stufenweisen Steigerung der Behandlungsintensität nach Bedarf. Inhalte der Schlafedukation werden auf der nächsten Slide vorgestellt.
Die Stufe 1 des Stepped Care Ansatzes kann von Physiotherapeut*innen umgesetzt werden.
Dabei wird bezüglich einer Verhaltensveränderung beispielsweise durch Motivational Interviewingberaten. Hinzu kommen spezifische Empfehlungen zur Schlafhygiene, die bei dem Verdacht einer Insomnie gestellt werden können, um eine schlafverbessernde Verhaltensveränderung zu unterstützen. Bei einer ausgeprägten Insomnie sollte Stufe 1 ggfs. übersprungen und direkt Stufe 2 herangezogen werden.
Empfehlungen zur Schlafhygiene
- kein Koffeinkonsum 4 – 6 Stunden vor dem Schlafengehen
- Rauchen unmittelbar vor dem Schlafengehen und bei nächtlichem Aufwachen vermeiden
- kein Alkoholkonsum 4 – 6 Stunden vor dem Schlafengehen
- schwere Mahlzeiten vor dem Schlafengehen vermeiden
- intensives Training 2 Stunden vor dem Schlafengehen vermeiden
- Schlafzimmer als Ort zum Wohlfühlen gestalten
- extreme Temperaturen im Schlafzimmer vermeiden
- Schlafzimmer dunkel und leise halten
- kein Bildschirmkontakt 1 Stunde vor dem Schlafengehen
Die Stufe 2 des Stepped Care Ansatzes beinhaltet die Überweisung an Spezialist*innen bei ausbleibender Verbesserung nach Stufe 1.
Hierbei kann die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (CBT-I) sowie eine kurzzeitige medikamentöse Intervention zur Verbesserung der Insomnie erfolgen.
Von einer langfristigen Medikamentengabe bei Insomnie ist abzuraten, da diese eine geringe Wirksamkeit bei hohen Nebenwirkungsrisiken zeigt.
Chronischer Schmerz und Ernährung
Ernährung gilt als wichtiger modifizierbarer Lebensstilfaktor in der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen. Schlechte Ernährungsgewohnheiten stehen dabei oft im Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas.
Diese gelten als primäres öffentliches Gesundheitsproblem in Ländern des globalen Nordens und gehen mit einer erhöhten Mortalität und diversen weiteren Folgen einher:
Hinsichtlich therapeutischer Interventionen sollten Programme zur Gewichtsregulierung sowohl Änderungen im Ernährungs- als auch Bewegungsverhalten beinhalten.
Anstelle einer reinen Kalorienrestriktion wird eine individuelle, an das Aktivitätsniveau angepasste Kalorienzufuhr empfohlen.
Der Einbezug von Verhaltenstheorien wird empfohlen, um ein energiebilanzbezogenes Verhalten zu unterstützen und zu erleichtern.
Übergewicht und Adipositas:
- beeinträchtigt die physische Leistungsfähigkeit
- korreliert mit schmerzbedingten Einschränkungen
- wechselseitige Beziehung mit chronischem Schmerz
- erhöhtes Risiko für Inanspruchnahme medizinischer Leistungen
- Risikofaktor für Schmerzentstehung
- korreliert mit Schmerzintensität
- Barriere für ein effektives Schmerzmanagement
Das American College of Sports Medicine (ACSM) betont, dass die Kombination aus einer moderaten Ernährungseinschränkung und einem Programm für physische Aktivität wirksam ist und dauerhafte Ergebnisse zeigt.
Hierfür können konkrete Empfehlungen für eine ausgewogene Ernährungsweise, wie die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) oder die Ernährungsempfehlungen der BzfE hilfreich sein.
Fazit & Guideline
Die Mechanismen und Wirkungsbeziehungen der verschiedenen Lebensstilfaktoren und chronischer Schmerzen sind enorm komplex.
Weitere Lebensstilfaktoren wie Rauchen oder soziale Isolation, die nicht in diesem Beitrag thematisiert wurden, können ebenso entscheidend für Therapie und Management von chronischen Schmerzen sein.
Durch einen multimodalen und individuellen Ansatz können relevante Faktoren innerhalb der Therapie identifiziert und thematisiert werden. Ein solcher Ansatz kann einen entscheidenden Paradigmenwechsel in der Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen darstellen.
- Identifikation relevanter Lebensstilfaktoren
- Barrieren einer Verhaltensveränderung abbauen
- Motivational Interviewing
- Neurophysiologische Schmerzedukation
- Implementierung eines individuellen, multimodalen Lebensstils
- Stressmanagement
- Schlaftraining / Edukation
- Physische Aktivitätsinterventionen / Trainingstherapie
- Ernährungsinterventionen / – beratung / Gewichtsmanagement